Fakten, Vorteile und Kritiken zum gebisslosen Reiten

Zuletzt aktualisiert am: 17.12.22

Zum Thema gebisslos Reiten gibt es seit Jahren viel Diskussionen in der Reitwelt: die Einen behaupten, es sei das Beste fürs Pferd ohne Gebiss zu reiten, während andere entgegnen, dass ein Pferd ohne Gebiss nicht richtig in Anlehnung und versammelt gehen kann. Auch ich denke immer wieder über das Thema nach, bin meistens mit Gebiss, aber auch einige Male ohne geritten. In diesem Beitrag stelle ich deshalb die wichtigsten Punkte zum Thema gebisslos Reiten vor: von einfachen Fakten, über Vorteilen und wissenschaftliche Erkenntnisse bis hin zu Gegenstimmen.

Gebisslos reiten: Fakten, Vorteile und Kritiken

1. Was ist gebissloses Reiten

1.1 Wirkung

Gebisslos reiten bedeutet, dass Du Dein Pferd ohne Trense oder Kandare im Maul reitest. Dabei wird zwischen Zäumungen ohne Hebelwirkungen und welchen, die durch Anzüge wie bei einer üblichen Kandare Druck auf die Nase, das Kinn und das Genick ausüben, unterschieden. Bei einer gebisslosen Zäumung wirkst Du also über Deine Zügel größtenteils auf den Nasenrücken und nicht auf das Maul ein.

Lesetipp: Pferde-Tipps erklärt die gängigsten gebisslosen Zäumungen samt ihrer Wirkung!

1.2 Anwendung

In den letzten Jahren wurde das Reiten ohne Gebiss immer populärer und ist vor allem bei Freizeit- und Wanderreitern beliebt. Zudem gibt es viele Jungpferde, die mit einer gebisslosen Zäumung eingeritten, und dann später aufs Gebiss oder die Kandare umgestellt werden. Während gebisslose Zäumungen z.B. auf einigen Springturnieren ab Klasse M erlaubt und auch auf vielen Westernturnieren zu sehen sind, dürfen sie bei Dressurturnieren nicht eingesetzt werden.

1.3 Versicherungsschutz

Mittlerweile übernehmen auch die meisten Versicherungen Kosten für Schäden, die durch oder beim Reiten ohne Gebiss entstehen – und das sowohl in der Reitbahn als auch im Gelände. Hier solltest Du Dich am besten ganz genau bei den verschiedenen Anbietern informieren und die Kostenübernahme im Schadensfall abklären. Falls du noch eine Pferdehaftpflichtversicherung suchst, kann ich dir die Versicherung der Uelzener* empfehlen. Dort sind alle gebisslosen Zäumungen mit abgedeckt.

2. Gebisslos Reiten: die Vorteile für Dein Pferd

Oder: Die Nachteile des Reitens mit Gebiss

2.1 Kein ständiger Druck

Das gebisslose Reiten ist für Dein Pferd, sofern korrekt ausgeführt, wahrscheinlich angenehmer als das Reiten mit Gebiss. Es gibt einige Tierärzte, die behaupten, dass für das Gebiss gar kein Platz im Maul des Pferdes ist. Viele Gebisstücke drücken auf die Zunge und den Gaumen des Pferdes, was dem Pferd Schmerzen zufügt. Somit verspürt das Pferd bereits ohne die Einwirkung der Reiterhand Druck auf der Zunge und erhält ein ständiges Signal.

2.2 Keine Atemnot

Einige Pferde können durch diesen eigentlichen Störkörper im Maul eine Atemnot verspüren, und die Luftzufuhr kann unterbrochen werden. Durch den andauernden Druck kann sich das Pferd zudem im Kiefer blockieren. Manchmal kannst Du sogar sehen, wie ein Pferd beim Reiten sein Maul aufreißt oder gar die Zunge rausstreckt. Das kann ein Zeichen (großer) Schmerzen sein, denn das Pferd versucht durch diese Handlungen dem Druck auf Gaumen und Zunge zu entweichen. Bei einer gebisslosen Zäumung verspürt das Pferd keinen Druck und somit auch keine Schmerzen im Maul.

Notiz: Es gibt allerdings auch Pferde, die einfach gerne mit Ihrer Zunge spielen und diese deshalb aus ihrem Maul hängen lassen. Es muss also immer auf das Gesamtbild des Pferdes geachtet werden, um zu sehen, ob es Schmerzen empfindet.

2.3 Feine Hilfen

Da eine Zügelhilfe den ohnehin schon gegebenen Druck des Gebisses noch erhöht, ist es fragwürdig, ob die Idee einer feinen Hilfegebung überhaupt umsetzbar ist. Denn eine Hilfe gibt ein Signal, ein Kommando, das nach Reaktion und Ausführung des Pferdes wieder weicher oder gar ganz unterlassen werden sollte. Das Pferd kann also immer feiner geritten werden, da es lernt, dass der Druck einer Hilfe nachlässt, sobald es reagiert. Durch die Zäumung mit Gebiss ist der Druck allerdings immer irgendwie, wenn auch nur leicht, gegeben und das Pferd erhält keine wirklich ganzheitliche Belohnung.

2.4 Keine widersprüchlichen Signale

Zudem löst das Gebiss laut einer wissenschaftlichen Studie beim Pferd einen Reflex aus: es denkt, dass es Futter bekommt und stellt somit den ganzen Köper auf die Nahrungsaufnahme ein. Dadurch wird mehr Speichel produziert und der Magen-Darm-Tragt angeregt. Dies sorgt für einen komplexen Vorgang beim Pferd bei dem die ganze Energie auf die Nahrungsaufnahme abgerichtet wird und somit weniger Energie für den Bewegungsapparat, das Herz und das Gehirn des Pferdes.

2.5 Kein psychischer Stress

Gleichzeitig wird das Pferd aber durch den Reiter im Training aufgefordert sich stärker und korrekt zu bewegen, was für ein Pferd entsprechend anstrengend ist und eine erhöhte Konzentration sowie einen höheren Herzschlag fordert. Durch die Muskelaktivität benötigt das Pferd mehr Sauerstoff, bekommt jedoch durch den erhöhten Speichelfluss im Maul schlechter Luft. Dies kann zu Atemproblemen führen und löst im Pferd psychischen Stress aus: denn durch die Reflexe wird der Körper des Pferdes auf Futteraufnahme und die dazugehörige Ruhe gestellt, während der Reiter kontinuierliche Bewegung und Anstrengung verlangt.

2.6. Zusammenfassung

Diese für wahrscheinlich gehaltenen Probleme und paradoxen Befehle entstehen beim Reiten ohne Gebiss nicht. Eine gebisslose Zäumung nimmt also den Druck aus dem Maul, stoppt das damit verbundene und vermutet Verlangen der Nahrungsaufnahme, lässt den Mund entsprechend trocken, erschwert das Atmen nicht und verhindert somit den dadurch auch häufig vorkommenden psychischen Stress.

3. Gebisslos Reiten: Kritik und Gegenkritik

3.1 Druck aufs Nasenbein

Leider ist auch das gebisslose Reiten nicht immer eine sanfte Alternative zum Gebiss. Es gibt einige gebisslose Zäumungen wie das mechanische Hackamore, das durch seine Hebelwirkung großen Druck auf das Nasenbein und Genick sowie den empfindlichen Kinnnerv des Pferdes und dementsprechend ebenfalls Schmerz ausüben kann. Auch das Sidepull kann dem Pferd bei falscher Anwendung durch einen rauen Nasenriemen Schmerzen zufügen. Vor allem die in Spanien verwendete Serreta, eine Art Kappzaum, kann sehr scharf einwirken und beim Pferd sichtbare Verletzungen hinterlassen.

Lesetipp: Auf Pferddialog wird deutlich gemacht, dass auch gebisslose Zäumungen Schmerzen beim Pferd verursachen können. Wie immer muss also jedes Pferd und jeder Reiter individuell betrachtet werden, und für sich die beste Methode sowie die beste Ausrüstung finden!

3.2 Mehr Präzision vom Reiter erfordert

Viele Reiter kritisieren, dass das Geben von feinen und präzisen Hilfen mit einer gebisslosen Zäumung schwierig bis unmöglich ist. Denn Zügelhilfen funktionieren beim gebisslosen Reiten vermehrt über Impulssignale. Doch das Problem ist meistens nicht das fehlende Gebiss: das Problem ist der Reiter. Gebissloses Reiten erfordert vom Reiter viel mehr Präzision in der Umsetzung von Gewichts- und Schenkelhilfen. Ein falscher Sitz wird somit viel schneller aufgedeckt und der Reiter muss sich wesentlich mehr anstrengen, um auch wirklich korrekt zu sitzen und entsprechend korrekt zu reiten.

3.3 Pferd stützt sich auf die Zügel

Es gibt zudem Reiter, die beanstanden, dass sich Pferde ohne Gebiss vermehrt auf die Zügel stützen, sich vorne schwer machen und dabei auf der Vorhand laufen. Dies passiert vor allem, wenn der Reiter versucht das Pferd über einen konstanten, wenn auch nur sehr leichten Druck in die klassische Anlehnung zu bekommen. Es wird also bemängelt, dass sich das Pferd über die gebisslose Zäumung versucht auszubalancieren und diese wie ein fünftes Bein nutzt. Allerdings kann dies genauso gut beim Reiten mit Gebiss passieren: der Fehler liegt also wieder beim Reiter, der nicht korrekt über seine Gewichts- und Schenkelhilfen reitet, und eben nicht bei der Zäumung.

3.4 Schwierigkeiten bei der Anlehnung und Stellung

Außerdem wird von vielen argumentiert, dass es Schwierigkeiten bei der Anlehnung und Stellung des Pferdes gibt. Die klassisch verstandene Anlehnung besagt, dass der Reiter im ständigen und weichen Kontakt zum Pferdemaul steht und dass das Pferd dabei von selbst an diese Verbindung herantritt. Dabei wird als ein wichtiges Zeichen dieser Anlehnung das Kauen auf dem Gebiss, sowie das Loslassen und Entspannen im Kiefer, in der Zunge und im Genick gesehen.

3.5 Ist ein Umdenken nötig?

Was diese klassische Anlehnung angeht ist wohlmöglich ein kleines Umdenken in der Reitwelt notwendig, denn:

1. Zeigt sich die richtige Anlehnung nicht nur im Pferdemaul, sondern vor allem in der korrekten Haltung und dem richtigen Zusammenspiel aller Muskeln des Pferdes, also dem Gesamtbild des Pferdes unterm Reiter. Auch beim Reiten ohne Gebiss ist es möglich beim Pferd einen Spannungsbogen und aufgewölbten Rücken samt aktiv tretender Hinterhand zu erreichen.

Lesetipp: Mehr zur korrekten Anlehnung und wie Du Dein Pferd richtig in Anlehnung reitest, erfährst Du hier!

2. Muss sich gefragt werden, warum das Pferd überhaupt im Kiefer verspannt und diesen sowie die Zunge und das Genick lösen muss. Wenn den Beurteilungen der Tierärzte und der wissenschaftlichen Studie Glauben geschenkt werden kann, mag man zu der Annahme gelangen, dass das Pferd vielleicht eben genau aufgrund des Gebisses im Maul, Kiefer und Genick verkrampft.

3. Sollte dies der Fall sein, müssen einige Richtlinien sowie die Ausbildung von Pferd und Reiter nochmals überdacht werden. Denn das gewünschte Loslassen im Kiefer und das Entspannen der Zunge beim Reiten ohne Gebiss müsste unter dieser Annahme gar nicht erst erreicht werden, da sich das Pferd dank fehlendem Gebiss wohlmöglich gar nicht erst verspannt.

Wichtig: Die Anlehnung eines Pferdes sollte also nicht mit dem Herantreten an das Gebiss gleichgesetzt werden!

Fazit:

Mein Fazit ist klar: ich werde in Zukunft vermehrt versuchen mit sanfter Hand gebisslos zu reiten. Zwar gibt es ein paar Argumente, die gegen das gebisslose Reiten sprechen, aber nicht ausschlaggebend sind. Denn das klare Argument für eine Zäumung ohne Gebiss ist wohl die Annahme, dass das Gebiss grundsächlich nicht pferdefreundlich ist. Es mag Pferde und Reiter geben, die besser mit Gebiss klarkommen und es gibt sicherlich auch Reiter, die einem Pferd auch ohne Gebiss großen Schmerz und Schaden zufügen können.

Dennoch sollten wir uns alle fragen, ob eine Ausbildung von Pferd und Reiter ohne Gebiss von Anfang an denn nicht die Bessere ist. Es muss eindeutig noch mehr Studien geben, die die Auswirkungen des Gebiss auf das Pferdemaul sowie die Alternative der gebisslosen Zäumung erforschen und somit für eine absolute Klarheit in der Reiterei sorgen. Die ersten Erkenntnisse sollten allerdings bereits jeden Reiter und Ausbilder alarmieren.

Lesetipps: Bei der Pferdeflüsterei gibt es ein lesenswertes Interview mit Monika Lehmenkühler, der Herstellerin des LG-Zaums. Und auch Alessa klärt über die Vorurteile gegenüber des gebisslosen Reitens auf!

Was sind Deine Erfahrungen zum Thema gebisslos Reiten? Was denkst Du über die Diskussion, Vorteile und Kritiken?

Bild: www.depositphotos.com – vanell

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Kommentare

  1. Hallo,

    dass das Maul beim gebisslosen Reiten trocken bleibt, kann ich so nicht bestätigen. Ich reite mein Pferd auch mal nur mit Stallhalfter Dressurlektionen, wenn er entspannt ist kaut er auch ohne Gebiss im Maul ab und hat hinterher einen leichten weißen Schaum auf den Lippen.

    Viele Grüße,
    Ramona

    • Hallo liebe Ramona,
      vielen Dank für Deinen Hinweis! Natürlich soll mit diesem Artikel nicht die Möglichkeit ausgeschlossen werden, dass Pferde nicht nur aufgrund der geschilderten Problematiken speicheln, sondern eben auch vom entspannten Kauen. Mit diesem Beitrag soll allerdings darauf hingewiesen werden, dass ein solches Speicheln nicht unbedingt Entspannung bedeuten muss, sondern auch ein Zeichen für zu viel Druck durchs Gebiss und den beschriebenen Reflex sein kann.
      Alles Liebe,
      Line / Kultreiter

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